22. September 2008

Der Verlierer

Die Elfer der Ü40 verlor am Sonntagmorgen 1:2 gegen die Friedenauer TSC II. Das ist nun keine wirklich aufregende Nachricht. Die Elfer, der eine oder andere erinnert sich, verliert öfter. Bemerkenswert an diesem Spiel war allerdings, dass der Sieger mitgespielt hat. Genau gesagt, der Sieger der 7er-Mannschaft. Damit war natürlich auch diese euphorische Gefühl verschwunden, das ihn noch nach dem Sieg gegen Karlshorst durchflutet hatte. Der Sieger war wieder im Alltag. Unglücklicherweise, noch euphorisiert von dem Sieg gegen Karlshorst, hatte er auch den Eltern seines Patenkindes seine Glücksgefühle in den schönsten Farben mitgeteilt und ihnen erzählt, dass er am nächsten Sonntag schon seinen nächsten Auftritt hatte. Den Unterschied zwischen 7er und 11er zu erklären, hielt er für unbedeutend. Wichtiger war ihm, dass sie mit ihren Kindern, dem neunjährigen Elian, seinem Patenkind, und dem siebenjährigen Junis, an diesem Wochenende auf Besuch bei ihm sein würden, und dass er betont hatte, dass man anschließend das Spiel gegen Friedenau unbedingt feiern müsse. Nach dem 1:2 zog er deshalb seine Rückkehr nach Hause etwas raus. Überhaupt, der Sonntag war so schön, dass man tausend Dinge tun könnte. Wer dachte da schon an ein popeliges Fußballspiel? Je länger der frühere Sieger bei einer einsamen Tasse Kaffee im Vereinsheim der TSC Friedenau darüber nachdachte, umso so sicherer war er, dass seine Besuch, seine Frau und sein Sohn vergessen haben würden, wo er überhaupt an diesem Vormittag war. Und so fiel es ihm auch irgendwann mal gar nicht mehr s schwer, die Rolle zu akzeptieren, die er in diesem Moment wieder spielte: der Verlierer.


Der Verlierer schloss routiniert seine Wohnungstür auf, er hatte vieles schon wieder verdrängt, ein paar ausgelassene Stunden mit seinen Freunden stünden vor ihm. Eine gelungene Abwechslung zu dieser doch deprimierenden Niederlage. Wie schön, das man Freunde hatte, dazu waren sie ja, dass sie einen auf andere Gedanken brachten. Kaum hatte der Verlierer die Tür geöffnet, da fiel ihm das Spruchband auf, der quer über den Flur gespannt war. Er war überrascht, das Band war neu. Der Verlierer blinzelte, dann las er die leuchtend roten Buchstaben: „Herzlich willkommen, Du Held“. Ein jähes Glücksgefühl durchdrang ihn. Damit hatte er nicht gerechnet. Auch nicht mit den heftigen Umarmungen und Glückwünschen seiner Freunde. Kathrin, die Mutters seines Patenkindes, flüsterte ihm „Wir sind so stolz auf Dich“ ins Ohr, Wolfgang, ihr Mann, drückte dem Verlierer fest die Hand und blickte ihm zufrieden tief in die Augen. Seine Frau küsste ihn freudig, und Elian, sein Patenkind, rief mit glockenheller Stimme: „Onkel Frank, Onkel Frank, schau mal, was ich Dir gebastelt habe.“ Dann zog er einen Kranz mit getrockneten und frischen Blumen hervor und drückte ihn dem Verlierer auf den Kopf. Junis, sein kleiner Bruder, kreischte aufgeregt: „Wie hoch habt ihr gewonnen? Habt ihr sie richtig platt gemacht?“ Da beugte sich Wolfgang zu ihm und sagte in aufgesetzt strengem Ton: „Na, na, Junis. Das sagt man so aber nicht. Man muss dem Gegner immer seine Würde lassen.“ Dann drehte er sich zum Verlierer und fragte: „Na, erzähl mal. Wie deutlich habt ihr sie besiegt?“ Junis klatschte derweil aufgeregt in seine kleinen Patschhände.

Der Verlierer wich einen Schritt zurück und verkündete dann geheimnisvoll: „Das ist wie beim Krimi. Die Auflösung kommt erst zum Schluss. Man muss doch Spannung aufbauen.“ „Genau“, sekundierte seine Frau und leitete alle ins Wohnzimmer, wo bereits gefüllte Sektgläser sowie eine aufgebaute Videokamera standen. Jeder erhob sein Glas, dann erklärte Wolfgang feierlich: „Wir stoßen an auf das wohl eines kleinen Fußball-Helden.“ Das war natürlich ein Spaß, aber der Verlierer fühlte sich trotzdem geschmeichelt. Dann stellte Kathrin ihr Glas ab und verschwand hinter der Videokamera. „Halt, noch nicht erzählen“, sagte sie, „wir nehmen das alles doch auf. Dann können wir zu Hause in Düsseldorf doch ein bisschen angeben. Aber vorher noch: Üüüberraschung.“ Wie auf Kommando stellten sich Elian und Junis in einer Ecke auf. Ihre Mienen waren gespannt. „Kinder, rückt noch ein bisschen nach links, da ist das Licht besser.“ Die beiden verschoben sich um ein paar Zentimeter. „Gut so“, sagte Kathrin, dann hob sie den rechten Zeigefinger. „Achtung, auf mein Kommando.“ Sie stieß den Finger in Richtung der Kinder und sagte: „Jetzt, ab.“ Im nächsten Moment brüllten Elian und Junis: „Hurra, hurra, unser Sieger, der ist da.“ Kathrin schwenkte die Kamera langsam nach links und fing das überraschte und erfreute Gesicht des Verlierers , seiner Frau und von Wolfgang ein. Dann sagte Kathrin ins Mikrofon der Kamera: „Heute ist Sonntag, der 21. September, wir sind in Berlin. Frank erzählt von seinem Spiel gegen Friedenau. Die Kamera richtete sich auf den Verlierer, der es sich ebenso wie die Kinder und den Rest der Erwachsenen gemütlich gemacht hatte. „Also schieß los“, sagte Wolfgang.

Der Verlierer schloss genüsslich die Augen „Also“, begann er, „ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie traumhaft unser erstes Tor war. Wir hatten Eckball von der linken Seite, Manni schoss den Ball über die halbe Abwehr von Friedenau, direkt auf den Kopf von Boris, und der drückte den Ball wuchtig ins Netz. Das war wirklich klasse. Ihr hätte Boris hören sollen, wie der jubelte. Die ganze Mannschaft freute sich mit ihm.“ Junis und Elian hingen an den Lippen des Verlierers, wie der nicht ohne Stolz registrierte. „Und dann kamen die Szenen von John“, fuhr er fort. „ Mann, John lieferte im Angriff ein wirklich tolles Spiel. Da war dieser eine Kopfball. Der Ball kam von rechts, John warf sich in den Schuss, drehte den Kopf und drückte den Ball aufs Friedenaur Tor. Boah, der Ball, ich sag es euch, der ging wirklich nur hauchdünn am Pfosten vorbei. Und dann die nächste Szene von John. Der erhielt den Ball von halblinks, von wem weiß ich nichts mehr, ein Ableger, und John dreht sich um und schießt mit voller Kraft.“ Der Verlierer sprang auf und holte Briefpapier und Filzstifte, damit er genau die Positionen von John und den Gegnerspielern aufzeichnen konnte. „Aber der Ball, ihr glaubt es nicht, der ging nur an den Pfosten.“ Der Verlierer zog einen neuen Bogen hervor. Auf dem zeichnete er nur die Chance von Stefan nach, der auch fast allein vor dem Torwart stand und den Ball nicht unterbrachte. „Und dann“, die Stimme des Verlierers erhielt einen drohenden Unteron, „hatten wir noch weitere Riesenchancen, da standen wir allein gegen einen Verteidiger oder nur den Torwart, aber der Schiedsrichter pfiff abseits. Ein paar Mal passierte uns das. Wären wahrscheinlich Tore geworden, so druckvoll, wie wir gespielt haben.“ Plötzlich musste Junis zweimal laut niesen.

„Mensch Junis“, sagte Wolfgang ärgerlich. „das kommt jetzt auf der Aufnahme ganz schlecht.“ Junis entschuldigte sich. Aber Wolfgang hörte schon gar nicht mehr hin. Denn der Verlierer erzählte weiter von der letzten Viertelstunde, in der die Friedenauer kaum aus ihrer eigenen Hälfte kamen. „Über Manni machten wir Druck, Micha als Verteidiger schaltete sich in den Angriff ein, Hans hatte einen herrlichen Distanzschuss, der leider am Tor vorbeistrich. Schwaben-Klaus lieferte auch eine starke Partie im Angriff.“ Kathrin hatte vor Aufregung die Hände ineinandergekrallt. Die Spannung im Raum war fast unerträglich. Der Verlierer bekam Gänsehaut von seiner eigenen Erzählung. „Und dazu muss man noch sagen, das wir geschwächt waren, weil sich Carsten in der ersten Halbzeit ohne Fremdeinwirkung das linke Knie verdrehte und raus musste. Carsten ist unser schnellster Mann. Leider muss man aber sagen, dass er bis dahin nur wenige Bälle bekommen hatte. Aber wer weiß, wie er in der zweiten Halbzeit aufgedreht hätte.“ Bei dem Gedanken schnalzte der Verlierer mit der Zunge. Seine Zuhörer nickten beeindruckt. „Und der Gegner, wie war der?“, fragte Wolfgang dann leicht verächtlich. „Ach, der Gegner“, erwiderte der Verlierer, hob das Kinn und lehnte sich zurück. „Der war ja nun wirklich nicht so toll, das kann man nicht sagen. Die hatten sich zwei, drei Leute von der ersten Mannschaft ausgeliehen, da siehste, wie unfair die gespielt haben. Aber dafür, dass die so tricksten, dafür haben die wirklich nicht toll gespielt. Ich meine das 1:0 für sie, das war ja nun wirklich kein Glanzstück. Das war ein Schuss aus 30 Metern, eine Bogenlampe. Ich denke, sie war nicht unhaltbar, aus meiner Sicht. Aber unser Keeper hat die glaube ich unterschätzt. Er dachte wohl, der Ball ginge übers Tor und hat deshalb die Hände erst gar nicht gehoben. Und das zweite Tor von denen, also gut war das auch nicht. Von links trullerte der Ball vors Tor, ein Verteidiger und unser Keeper waren beide dran, aber konnten den Ball nicht wirklich klären, er rollte weiter, und da war dann ein Friedenauer und stolperte den Ball rein. Eigentlich war das ja gar kein richtiges Tor.“ Die Zuhörer nickten zustimmend, so ein Tor, das zählt ja eigentlich gar nicht. „Also praktisch stand es immer noch 1:0.“
Der Verlierer trank einen Schluck Sekt, die zweite Flasche war bereits geöffnet. „Außerdem fiel das Tor ja in der zweiten Halbzeit. In der ersten Halbzeit hielten wir nach dem 1:0 hinten den Laden dicht. Es gab noch leichte Probleme im Spielaufbau, da haben wir doch den einen oder anderen Ball leichtfertig verloren, aber bitte“, der Verlierer lachte etwas gekünstelt auf, „das passiert doch in der Bundesliga auch.“ Seine Besucher lachten mit, wie oft hatten sie im Fernseher Patzer von Profis gesehen. Aber dann lehnte sich Wolfgang vor und fragte erwartungsvoll: „So, aber dann habt ihr aufgedreht, nach dem 2:1 für Friedenau. Wie ging’s denn dann weiter?“

Junis und Elian klebten nun förmlich an den Lippen des Verlierers. Der machte eine längere Pause. „Nun ja“, sagte der dann, „nach dem 2:1, da kam der Abpfiff.“
Ein paar Sekunden lang tauschten Sabine, Kathrin und Wolfgang verständnislose Blicke aus. Dann beugte sich Wolfgang vor und fragte, Augen wie Scheinwerfer: „Ihr habt verloooren?“ Der Verlierer nickte. Jähe Stille durchzog den Raum. Das Zwitschern der Vögel war das einzige vernehmbare Geräusch. Elian zog langsam Blatt Papier an sich, umklammerte einen Flizstift und begann mit etwas ungelenker Schrift zu malen. Langsam formten sich die Buchstaben zum Wort „Versager“. Junis begann zu weinen, weil ihn der Stimmungswechsel erschreckte. Sabine studierte intensiv die Blätter der Yucca-Palme, Wolfgang beobachtete intensiv ein Flugzeug, das vom nahegelegenen Flughafen Tempelhof gestartet war und jetzt hinterm Fenster langsam verschwand, während Kathrin aufstand und an den Knöpfen der Videokamera nestelte. „Was suchst Du denn?“, fragte der Verlierer mit leicht belegter Stimme. „Na was wohl, die Löschtaste natürlich, „antwortete Kathrin eisig. „Meinst Du, wir blamieren uns.“ Fünf Minuten lang herrschte Stille. Leider hatten alle schon früh beschlossen, dass man eine Videoaufnahme von allen machen müsse, man kommt ja nicht s oft zusammen. „Bringen wir’s hinter uns“, brummte Wolfgang. Kathrin stellte sich hinter die Videokamera und dirigierte alle in die optimale Position. Der Verlierer wurde so gestellt, dass ihn die Palme nahezu vollständig verdeckte. Kathrin erklärte bedauernd, wegen des Lichts ginge das nicht anders. Dann stellte sie sich zu der Gruppe. Niemand lächelte.

„Wir möchten draußen Fußballspielen“, riefen Elian und Junis, denen das ganze jetzt zu familiär und zu steif wurde. „Gute Idee“, sagte Wolfgang. Im Garten teilte Elian die Rollen zu. Er selber war Michael Ballack, Junis war Ribery, Wolfgang durfte Miroslav Klose spielen, Kathrin war Birgit Prinz, Sabine Lukas Podolski, der Verlierer war der Torpfosten. Riberys Mannschaft gewann 6:1, der Verlierer erhielt vier Schüsse gegens Schienbein und die rechte Schulter und einen von Wolfgang gegen die Brust. Er war sich nicht sicher, dass das unbeabsichtigt war.
Der Besuch reiste dann doch etwas früher ab als erwartet. „Die Kinder müssen zu Schule, ihr wisst das ja, es wird sowieso spät“, sagte Wolfgang, dann gab er allen die Hand auch dem Verlierer. Der hatte das Gefühl, einen toten Fisch zu berühren. Kathrin riss stumm das Spruchband von der Decke, Elian stopfte den Blumenkranz in den Abfallkorb. Dann fuhren alle weg. Sabine schleppte sich ins Schlafzimmer weinte in ihr Kissen.

Der Verlierer aber stand da, von allen verlassen, gedemütigt, in seinem Selbstwertgefühl tief getroffen. Das also war Freundschaft wert. Schöne Freunde. Aber er war ein Kämpfer. Er hatte dieses grandiose 2:0 gegen Karlshorst noch nicht vergessen. Er wusste, was er leisten konnte. Er hatte die Grenzenlosigkeit gespürt, dieses berauschende Gefühl, dass seine Grenzen erst in den Tiefen des Universums liegen. In immer größeren Wellen durchflutete ihn nun dieses Gefühl der Allmächtigkeit. Nein, ihn konnte man nicht unterkriegen, nicht durch ein bedeutungsloses 1:2, nicht durch opportunistische Freunde, nicht durch kleinkarierte Kommentare. Dort saßen die Verlierer. Er aber, das spürte er, er war ein Siegertyp. Seine Freunde, das waren diese echten Kerle, die Helden, sie verstanden ihn. Diesen Menschen wollte er jetzt nahe sein. Entschlossen ging er zu seiner DVD-Sammlung, griff eine Disc und legte sie ein. Dann zog er sich berauscht „Rambo IV“ rein.


Frank B.

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