Ein sonniger Sonntag im Frühsommer 2041. Auf den Klappstühlen der Tribüne auf der Hubertus-Anlage sitzen John und Bernd Grimm nebeneinander und blinzeln zufrieden in die Sonne. Vor ihnen spielen ihre Enkel in der A-Jugend des Berliner SC, es ist ein wichtiges Spiel, die A-Jugend des BSC kann noch den Aufstieg schaffen. 50 Meter weiter streift eine Touristengruppe durchs eigentliche Stadion. Seit es unter Denkmalschutz steht und die Tartanbahn unter dem wuchernden Gras inzwischen nahezu vollständig verschwindet, ist es ein belietes Ausflugsziel geworden. Unter dem Titel „Wilde Natur im urbanen Raum“ lockt es immer wieder Neugierige, die von Rebecca Schütte, geborene Richter, sachkundig übers Gelände geführt werden. Der BSC kassiert 50 Prozent der Teilnehmergebühren und verringert damit seine Steuerschulden, die voraussichtlich im Jahr 2097 abbezahlt sein werden, den Rest behält Rebecca Schütte selber. Manchmal erzählt sie auch von den Heldentaten ihres Vaters, der im Stadion als Torhüter der 2. Ü40 wahre Kunststücke vollbracht habe.
John und Bernd Grimm beobachten derzeit ihre Enkel, die übers Feld hetzen. Allerdings nicht so, wie sich das die Beiden vorstellen. „Mensch, den Ball musste doch reinknallen“, brüllt John plötzlich. Bernd Grimm nickt bedächtig. „Weißte John“, sagt er dann, „wir haben die Dinger noch richtig knallhart versenkt. Aber die Jungen, die schaffen das heute nicht mehr.“ Er richtet sich auf und brüllt: „Ihr müsst mehr tun, verdammt.“ Erschöpft von dem Kraftaufwand sinkt er wieder in sich zusammen, atmet hektisch und dreht dann seinen Kopf zu John. „Weißte noch“, sagt er , „Meteor 06, das Auswärtsspiel im Wedding? Muss 2010 oder 2011 gewesen sein. Was wir da für Tore geschossen haben.“ John zieht die Brauen zusammen, er denkt scharf nach. „Stimmt, dieses Spiel, als es so heiß war.“ Bernd Grimm nickt. „Und wo das Bier am Kiosk so billig war. Wedding halt.“ Er überlegt kurz, dann starrt er wieder aufs Feld. „Seltsam, dass ich mich an die Preise noch erinnere. Sonst vergesse ich inzwischen so viel. Ich weiß nur noch, dass wir drei Tore geschossen haben. Richtig schöne Tore.“
Ja, erwidert John und zwirbelt aus den Spitzen seines Barts, der ihm bis zu den Brustwarzen reicht, einen Knoten. „Richtig geile Tore waren das.“ Die Sonne brennt, John greift zu seinem gekühlten Kräutertee und nimmt einen tiefen Schluck. „Schmeckt herrlich“, sagt er und wischt sich den Mund ab. „Die Tante vom „Essen auf Rädern“ macht den gut. Willste einen?“ Er streckt Bernd Grimm die Trinkflasche entgegen, aber der wedelt nur abwehrend mit der Hand. „Das erste Tor“, sagt er dann, „das war doch dieser Kopfball von Boris. Boris Glinicke. Nach der Flanke von links, von dem Frank Dings da, ach, wie heißt er doch gleich. Mensch, ich vergeß’ alles.“ Bernd Grimm denkt nach, er weiß es auch nicht mehr. „Müller der Möller oder so ähnlich“, sagt John. „Auf jeden Fall ein starker Kopfball.“
Sie blicken aufs Spielfeld und sind sich wortlos einig, dass die Jungen so etwas nie hinkriegen werden, so einen Kopfball. „Ist nicht mehr so früher“, sinniert John. Bernd Grimm verfolgt mit einem Auge das Geschehen auf dem Feld, während er seine dritten Zähne aus dem Mund nimmt und in einen gefüllten Plastikbecher sinken lässt. Dann schält er umständlich eine Coregataps-Tablette aus der Verpackung und löst sie im Wasser auf. Sekunden später vergibt ein BSC-Spieler eine Riesenchance, John springt auf, brüllt erbost aufs Feld und greift sich dann erschöpft ans Herz. Auch Bernd Grimm ist sauer und brüllt aus Leibeskräften, bis auch er fahl im Gesicht wird. „Komm, lass mal“, sagt John, „Dein Genuschel versteht doch keiner. Aber haste das gesehen? Ist doch nicht zu glauben. Schießt der doch glatt daneben.“ Er drückt sich in seine Sitzschale. „Ich kann mich gut erinnern, dass Du das zweite Tor gegen Meteor geschossen hast.“ Bernd Grimms Gesicht hellt sich auf, daran erinnert er sich. Fünf Minuten lang redet er auf John ein, der irgendwann mal genervt sein Hörgerät abnimmt. „Ich versteh kein Wort, hör auf, hör auf“, stöhnt er. John kann sich jetzt selber erinnern. Eine Flanke von rechts, Bernd nahm den Ball in der Luft auf, ein Drehschuss ins lange Eck.
Bernd will hektisch vorführen, wie er sich zur Seite gelegt und den Ball genommen hat, dabei stößt er allerdings gegen seinen Plastikbecher. Das Wasser rinnt in die Erde, die dritten Zähne rutschen ins Kies und sind erstmal nicht zu gebrauchen. Das hindert Bernd allerdings nicht daran, Anweisungen aufs Feld zu brüllen. Zwischen jedem Kommentar muss er freilich eine 30sekündige Pause einlegen. John hat inzwischen seinen Bart in vier Zöpfe aufgeteilt. „Das dritte Tor“, brummt er, „das dritte fiel gleich nach dem zweiten. Ein Schuss aufs Tor, der Ball prallte vom Torhüter ab, einer von uns staubte ab. Weiß nur nicht mehr, wer.“ Bernd Grimm nuschelt hektisch, ich weiß es, signalisiert er, John versteht ihn nicht. Er legt die Stirn in Falten. Ein paar Details fallen ihm noch ein. „Der Frank Dings da, der Möller oder Müller oder wie er heißt, der hatte mal noch einen Superfreistoß geschossen, ging an die Querlatte.“ Als Bernd Grimm Anstalten macht, seine dritten Zähen wieder einzusetzen, um sich an der Rückschau zu beteiligen, schnippst John das Gebiss weg. „Besser so“, brummt er, „muss erst sauber gemacht werden.“
Plötzlich taucht Rebecca Schütte, geborene Richter, mit ihrer Gruppe hinter ihnen auf. John dreht sich um. „Dein Vater hatte damals klasse gehalten, wirklich war. Ganz starke Paraden. Hatte sein bestes Spiel seit langem gemacht. Kannst ihm mal sagen. Wo ist er denn jetzt?“ „Seniorenresidenz St. Hildegard“, antwortet Rebecca Schütte, geborene Richter. „Es geht ihm gut, er leitet dort die Tischfußballgruppe.“ Bernd Grimm schaltet sich ein, mit ausladenden Handbewegungen und wilden Kommentaren beschreibt er Peter Richters Paraden. Im Hintergrund gerät ein älterer Tourist aus Wien in Streit mit seiner Gattin, weil sie sich nicht einigen können, aus welchem Land Bernd Grimm kommt. „Und ich sag Dir, baltische Staaten“, zischt der Mann seiner Frau ins Ohr. „Unsinn“, zischt sie zurück, „irgendwas mit orientalischem Einschlag.“ Sie beschließen, Bernd noch intensiver zuzuhören.
Rebecca Schütte hat sich leicht zu John gebeugt. „Und wie habt ihr gespielt. Habt ihr gewonnen?“ John zwirbelt verzweifelt an seinen Zöpfchen. „Ich weiß es nicht mehr“, sagt er, „ich kann mich einfach nicht mehr dran erinnern. Ich glaube, ich werde alt. Ich trinke ja schon jeden Tag Kräutertee und schau mir die alten Videos der BSC-Spiele an. So, um die Erinnerungen nicht zu verlieren.
Aber es wird immer schlimmer.“
Rebecca Schütte klopft ihm begüternd auf die Schulter, dann geht sie mit ihrer Gruppe weiter zum Ausgang. Neben John verlässt ein Zuschauer die Tribüne, er lässt eine aufgeschlagenes „BSC-Magazin“ neben sich liegen. John blickt auf die Seite. „Drama vor 30 Jahren“, lautet der Titel. „2. Ü 40 des BSC: Niederlage nach heldenhafter Aufholjagd.“
„War das unser Spiel?“, fragt John. „Wie viele Gegentore haben wir denn bekommen?“ Bernd greift sich das Magazin, rückt seine Brille zurecht und studiert den Text. Nach ein paar Sekunden greift er nach rechts. Traurig klappern dann seine dritten Zähne. John zählt mit. „Sechs“, sagt er schließlich. Dann beginnt er zu weinen.
Frank B.
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
1 Kommentar:
Hallo Frank, toller Bericht (siehe auch die Lobeshymnen auf der BSC Seite) und ein gutes Spiel gemacht.
Kommentar veröffentlichen