7. August 2011

Die Reifeprüfung

Ein Mittwochabend im Juli. Gerard Mejer und Bernd Grimm haben sich im BSC-Casino mit einer Flasche Rotwein an einen Tisch am Fenster verzogen. Gerard hatte ein paar Unterlagen ausgebreitet, die Stimmung war ernst. Es ging um ein bedeutsames Problem: Schafft Gerard die Aufnahmeprüfung für die Zweite Alt Ü 40?

Gerard hatte vor Wochen schon angefragt, sein Wunsch wurde behandelt wie inzwischen üblich. Denn vor der Saison 2011/12 gab es ungewöhnlich viele Neuzugänge, der Kader drohte aufzublähen, damit war der Teamgeist in Gefahr. Also beschloss der erweiterte Mannschaftsrat, dass sich jeder potenzielle Kandidat einem sportlichen und einem Charaktertest unterziehen muss.

Die praktische Prüfung auf dem Kunstrasenplatz hatte Gerard bereits bestanden. Bei den Abschnitten „Torschuss“, „taktische Raumaufteilung“, „schnelles Umschalten von Abwehr auf Angriff“ hatte die drei-köpfige, kritische Jury keine Einwände. Nur beim Prüfungsfach „Torjubel“ musste Gerard Abzüge hinnehmen. Er hatte nach dem Treffer von Ebi begeistert die Hände hochgerissen und eine Art Hopserlauf hingelegt. Korrekt wäre allerdings gewesen, Ebi die Hand entgegen zustrecken und mit ernster Miene zu sagen: „Ich gratuliere Dir, Eberhard“. BSC-Spieler der Zweiten Alt Ü 40 feiern ihre Erfolge souverän und ohne den Gegner zu demütigen.

Doch die mündliche Prüfung stand noch aus, sie sollte in zwei Tagen im Untergeschoss des Casinos stattfinden. Und genau darauf bereitete sich Gerard an diesem Abend mit Bernd Grimm vor. Weil Gerard schon so lange im Verein ist, hatte man ihm die Fragen großzügig vorab zukommen lassen. Sie lagen jetzt vor ihm.

„Hm“, sagte Gerard. „Erste Frage: Wie bereitest Du Dich grundsätzlich auf ein Spiel am Sonntag um 10.30 Uhr vor? Wie meinen die denn das? Wie soll man sich da groß vorbereiten?“

„Trinkst Du am Samstagabend Rotwein?“, fragte Bernd.
„Na ja“, erwiderte Gerard und blickte auf. „Ab und zu schon, so ein, zwei Glas.“
„Streich ihn.“
„Wen?“
„Den Rotwein.“ Bernd spielte mit dem Griff seines Glases. „Besser so.“

Gerard straffte sich. „Wieso soll ich denn den Rotwein streichen? Das ist guter Rotwein. Schön angenehm am Samstagabend.“
Bernd blickte Gerard an. „Ich denk mal, die erwarten, dass man keinen Alkohol vor so einem Spiel trinkt. Das ist professionelle Vorbereitung.“
„Ja, was soll ich denn sonst trinken?“, fragte Gerard etwas unwirsch.
„Mineralwasser.“
„Davon bekomme ich Sodbrennen.“
„Na, dann halt Milch. Am besten Biomilch.“

Gerard blickte ein paar Sekunden lang an Bernd vorbei ins Nirgend-wo. Dann schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf.
„Und was mach ich, wenn wir bei Freunden zum Essen eingeladen sind? Ab und zu kommt das vor.“
„Dann sag, dass Du nur Milch möchtest.“
„Milch zum Essen? Soll ich etwa zum Kalbsrücken ein Glas Biomilch verlangen. Die halten mich ja für verrückt.“

Bernd hatte sein Glas gehoben und blickte intensiv auf den Wein. „Kalbsrücken ist nicht gut. Kann zu schwer im Magen liegen. Besser, Du isst einen Salat. Am allerbesten, Du lässt Dir rohe Karotten servieren.“

„Jetzt übertreib mal nicht. Milch, Karotten, die zweifeln ja an meinem Verstand.“
Tja, mein Lieber“, entgegnete Bernd ruhig. „Willste bei denen spielen oder nicht?“
Gerard knetete seine Finger. „Ja schon“, sagte er dann. „Aber, ich mein’, das geht doch ein bisschen weit, oder?“ In seinen Ton schlich sich ein Anflug von Verzweiflung. Vor allem, weil er gleich aufs nächste Problem stieß.

„Manchmal gehen wir abends auch ins Theater. In der Pause trinken wir immer ein Gläschen Sekt. Ich kenne kein Theater, das Biomilch ausschenkt.“
„Muss ja nicht sein“, erwiderte Bernd ungerührt. „Kannst ja auch Wacholdersaft trinken.“
„In der Deutschen Oper gibt’s keinen Wacholdersaft“, erwiderte Gerard.
„Ja, da nicht“, sagte Bernd. „Aber ich war vor kurzem mal in einem kleinen Theater, eine Nebenstraße in Friedrichshain. Japanischer Experimentaltanz. War ein Tipp von einer Schülerin. Die haben dort Wacholdersaft ausgeschenkt. Hat gar nicht so schlecht geschmeckt.“

Gerard legt seine Stirn in Falten. „Ich mag keinen japanischen Experimentaltanz. Und meine Frau auch nicht. Die kriegt ja einen Schreikrampf, wenn ich ihr das vorschlage.“

Bernd starrte stumm in sein Weinglas. Eine Antwort erübrigte sich.

Nach ein paar Sekunden stöhnte Gerard: „Okay, okay, ich hab’ ja ver-standen. Aber ich’ schwör, das wird ne ganze harte Nuss. Da muss ich mir echt was ausdenken, sonst bekomme ich die nie dahin. Vor allem nicht ein paar Mal in der Saison. Japanischen Experimentaltanz! Die lässt sich ja scheiden.“ Dann ließ er sich alles noch mal durch den Kopf gehen. „Also, ich fass mal zusammen. Ich verbringe meine Samstagabende zu Hause vor Biomilch, bei Freunden vor rohen Ka-rotten oder bei Wacholdersaft und Experimentaltanz. So weit alles korrekt?“
„Nur vor Sonntagspielen“, sagte Bernd ungerührt.

Gerard seufzte. Bernd blickte ihn fast väterlich an. „Mann, Du kannst doch denen alles erzählen, musst Dich ja nicht dran halten. Das prüft doch keiner nach.“
Gerard seufzte erneut. „So einfach ist das nicht“, sagte er dann. „Natürlich prüfen die es nicht nach. Aber ich muss eine Ehrenerklärung unterschreiben, dass mich an das halte, was ich sage. Das mach ich auch. Das ist nur fair. Ich will ja nicht betrügen.
„Tja dann“, sagte Bernd.

Gerard wandte sich der zweiten Frage zu. „Wie bereitest Du dich zusätzlich mental auf ein Spiel am Sonntag um 10.30 Uhr vor?“, las er laut. Dann blickte er auf. „Verstehst Du das?“
Bernd überlegte. Schließlich sagte er versonnen: „Gehst Du in die Kir-che?“
"Nee“, antwortete Gerard irritiert.
„Besser wär’s“, sagte Bernd.
„Wieso?“, fragte Gerard noch verständnisloser.
„Na, weil man sich dort spirituell gut auf so eine Aufgabe vorbereiten kann. Im Frühgottesdienst sind sie immer besonders besinnlich.“

„Ich war seit Jahren nicht mehr in der Kirche“, sagte Gerard. „Ich geh höchstens an Weihnachten, wegen der Kinder. Wie soll ich denn da überhaupt beten? Ich kenn’ ja nicht mal das Vater Unser.“

Bernd dachte nach. Dann sagte er: „Pass auf, Du betest einfach:

Jesus schrieb an die Apachen:
Ihr sollt nicht bei der Predigt klatschen.

Jesus schrieb an die Komantschen:
Ihr sollt nicht bei der Taufe plantschen.

Gerard hatte eifrig mitgeschrieben, jetzt nickte er anerkennend. „Klas-se, hört sich gut an. Fällt Dir noch was ein?“
Bernd nickte.

„Jesus schrieb den Irokesen:
Euch schreib ich nichts, lernt erstmal lesen.“

Gerard notierte jedes Wort. Dann blickte er zufrieden auf seine Unterlagen.

„Gut, letzte Frage“, dozierte er. „In welcher Haltung lauschst Du in der Kabine den taktischen Anweisungen des Spielführers?“ Gerard hob den Kopf. „Versteh ich nicht. In welcher Haltung denn? Ich sitze auf der Bank und hör zu. Was denn sonst?“
Bernd hatte erkennbar auch Probleme mit der Frage. Nachdenklich kratzte er sich am Kinn.

„Tja“, sagte er schließlich. „So genau weiß ich das auch nicht. Aber nur dasitzen, das geht nicht. Sonst würden die so was ja nicht fragen. Du kannst ja knien.“
„Knien?“
„Na ja, so wie früher ein Bauer vor dem König, wenn er etwas wollte.“
„Hör mal“, sagte Gerard aufbrausend, „wir sind hier doch nicht bei Hofe. Das ist ein Fußballspieler, kein König.“

Bernd blickte ihn versonnen an. „Du musst umdenken. Das ist nicht mehr so wie früher. Die haben jetzt eigene Regeln. Ist so.“
Gerard starrte auf sein Glas. Er bemerkte, dass er seine Schmerzgrenze stieß.
„Wie soll ich den knien, verdammt?“, fragte er schließlich. „Mit einem Bein oder mit beiden Beinen.“

„Hm“, sagte Bernd. „Weiß nicht. Muss ich mir mal ansehen. Am besten Du gehst mal auf Dein linkes Knie. Und die Hände falten natürlich.“

Etwas widerwillig sank Gerard zu Boden.

Am Tresen sah Maria, wie Gerard mit gefalteten Händen sein Wein-glas anbetete. „Männer!“, dachte sie.
Bernd begutachtete fachmännisch den vor ihm knienden Gerard. „Siehst gar nicht so schlecht aus“, sagte er. „Du könntest den Kopf noch ein wenig zur Seite legen.“

Gerard legt den Kopf zu Seite und sah nun aus wie eine Nonne bei Empfang des Segens. Bernd musterte ihn eingehend. „Was denn jetzt?“, sagte Gerard von unten etwas unwirsch. „Mach’ schon, mir tut mein Knie weh.“
Bernd runzelte die Stirn. „So ganz perfekt sieht’s noch nicht aus“, sag-te er. „Nicht demütig genug.“

„Demütig“, sagte Gerard schon etwas kurzatmig. „Ich muss mich doch nicht für was entschuldigen.“

„Natürlich nicht“, erwiderte Bernd. „Darum geht’s doch gar nicht. Aber es muss schon eine bescheidene Haltung sein.“
Ächzend erhob sich Gerard. Bernd war in Gedanken versunken. Dann hellte sich seine Miene auf. „Ich hab’s“, rief er.
Gerard beäugte ihn misstrauisch. Inzwischen war er auf einiges gefasst.

„Du kennst doch die Bilder von Priesterweihen“, sagte er. „Da liegen die Jungs vor dem Bischof und starren auf den Boden.“
Gerard zuckte zusammen. „Das ist jetzt nicht Dein Ernst“, sagte er gepresst.
„Doch“, erwiderte Bernd eifrig. „Das ist die beste Haltung. Am besten, Du machst es mal vor.“

Gerard seufzte, dann legte er sich flach auf den Bauch, den Kopf nach unten. Maria musterte ihn scharf, dann beschloss sie, dass Gerard nur noch Milch bekommt.
„Gebongt, Mann“, sagte Bernd zufrieden. „Das ist es.“
Gerard erhob sich, klopft sich ab und nahm einen tiefen Schluck.
„Mann, das muss gefeiert werden“, sagte Bernd. „Maria“, brüllte er dann. „Bring mal bitte Sekt.“

Maria kämpfte ein paar Sekunden mit sich, dann seufzte sie und griff nach zwei Sektgläsern.
Als sie die Gläser an den Tisch brachte, lagen sich Bernd und Gerard gerade in den Armen. „Oh, Mann“, dachte sie, „die waren mal erwachsen.“

Zwei Tage später bestand Gerard problemlos die mündliche Prüfung. Dass er seinen Bauch richtiggehend auf den Boden presste, als es um die richtige Haltung in der Kabine ging, wurde besonders anerkennend erwähnt. Zum Dank durfte er der Jury Bier ausgeben.

Vier Wochen später hatte Gerard seinen ersten Einsatz in der 2. Alt Ü 40. Das Pokalspiel gegen Köpenick-Oberspree. Auf dem Platz klatschten sich alle Spieler ab, jeder einzelne umarmte Gerard und wünschte ihm viel Glück. Gerard blickte gerührt, band noch mal seine Schnürsenkel und zeigte energisch die Faust. „Auf geht’s, die machen wir platt“, verkündete er grimmig. Dann marschierte er zufrieden zur Ersatzbank.

Frank B.

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