Es begann eigentlich alles ganz harmlos. Tief „Michaela Sophia Alexandra Cornelia Isolde Magdalena, die 23.” zog am Sonntag Richtung Berlin, um 12 Uhr nieselte es bereits, und ein frischer, kalter Wind wehte übers Gelände von Hertha Zehlendorf 03. Die Elfer hatte sich pünktlich vor der Kabine versammelt, die Jacken hochgeschlossen, die Hände in den Taschen vergraben. Ein paar Meter weiter brutzelten Bratwürste, am Fenster des Vereinscasinos verkaufte eine Frau mit rostrotgefärbten Haaren Kaffee und Bockwürste. Die Elfer bereitete sich wie üblich auf das Spiel gegen Hertha Zehlendorf 03 vor. Die Mienen ernst, alle hochkonzentriert, die Gedanken gesammelt. Manni redete. Ein Spieler hatte einen vollen Kaffeebecher in die Kabine mitgenommen.
Niemand ahnte, dass damit das Drama begann.
Der Duft von heißem, starken Kaffe durchzog die Kabine, er erreichte die Nase von Klaus Schmid, und der spürte plötzlich einen unstillbaren Drang nach heißem Kaffee. Und er merkte sehr schnell, dass er diesem Drang nachgeben musste. Er wollte ihn genießen, diesen Kaffee, in Ruhe, warm eingepackt, möglichst bald. Und deshalb beschloss Klaus: „Ich muss mich auswechseln lassen, möglichst schnell.“ Spürte er nicht so ein komisches Zucken im Fuß? War das nicht ein Signal seines Körpers? Natürlich war es das. „Ich bin angeschlagen, ich weiß nicht, ob ich durchspielen kann. Mir wäre es am liebsten, wenn ich nur eine Halbzeit spiele“, verkündete er konsequent. Sofort verzichten, das traute er sich nicht. Aber immerhin war Hartmut kurzfristig aufgetaucht, es gab also einen Ersatzspieler. Niemand in der Kabine ahnte etwas von Klaus’ Hintergedanken. Klaus gehört zu den robustesten, wertvollsten, kampfstärksten Spielern, wenn er jammert, dann hat das seinen Grund.
Das Spiel: Ebi stand erst mal draußen, vermummt wie ein Steinewerfer am 1. Mai, und der BSC begann durchaus offensiv. Hertha Zehlendorf 03 war nicht sonderlich stark, besaß zwar Fähigkeiten am Ball, hatte aber kein Konzept für eine geordnetes Angriffsspiel. Das 1:0 und das 2:0 für Zehlendorf entstand durch miserable Fehler des BSC, Piet im Tor war machtlos. Stephan B. und Manni liefen sich vorne einen Wolf, erhielten aber zu wenig gute Bälle, das Mittelfeld und die Abwehr bemühten sich, doch der Aufbau war schlecht. Fehlpässe en masse, es gab kaum zwingende Torchancen. Manni dachte an Taktik, Stephan B. an einen Torschuss, Klaus an Kaffee.
Pause: Klaus ließ sich mit schmerzverzerrten Gesicht auswechseln, trabte in die Dusche und vergaß die Welt. Der Rest strebte zum Platz, Hartmut als Letzter. Pflichtbewusst schloss er sowohl die Tür zur Dusche als auch die der Kabine ab. An Klaus dachte er nicht. Doch Klaus war nun gefangen. Teilweise, jedenfalls. Zu seinem Glück gab es eine weitere, unverschlossene, Duschtür. Die führte zur, ebenfalls verschlossenen, Kabine des Gegners.
Nun begann die spektakuläre Rettungsaktion des Klaus S.. Es war, das wusste Klaus noch nicht, eine eher unerfreulich Episode.
Auf dem Platz ahnte man nichts davon. Auf dem Platz begann der BSC durchaus wieder offensiv, Zehlendorf ließ nach, aber die Angriffe blieben unsortiert. Die größte Tat für den BSC lieferte Piet, als er gegen einen durchgebrochenen Zehlendorf in letzter Sekunde glänzend klärte.
In der Zehlendorfer Kabine brüllte Klaus durch die Tür nach Hilfe. Eine brummige Stimme in unverkennbar schwäbischem Dialekt antwortete: „Was gibt’s?“
„Ich bin hier eingeschlossen“, brüllte Klaus. „Ich brauche den Schlüssel zu Kabine 21, der liegt irgendwo beim Spiel vom BSC gegen Zehlendorf, linker Platz.“
„Was krieg ich dafür?“, brummte die Stimme.
„Wie bitte?“
„Na, denkst Du, ich mache das umsonst?“
Da Klaus als Schwabe wusste, dass es völlig sinnlos war, mit einem anderen Schwaben über kostenlose Dienstleistungen zu debattieren, gab er sofort nach.
„Ich kauf’ Dir ne Bratwurst“, schrie er.
„Zu wenig. Zwei Bratwürste mit viel Senf, ein Kaffee, ein Bier, ein Snickers.“
„Eine Bratwurst, ein Bier, kein Snickers, viel zu teuer. Höchstens ein Bounty.“
„Willst Du mich verkohlen, auf ne Bratwurst verzichte ich, aber nicht auf Snickers.“
„Eine Bratwurst und ne Familienpackung Bounty.“
„Zu wenig. Eine Bratwurst, ein Bier, ein Snickers. Mein letztes Wort.“
„Ach, schmier Dir doch Dein Snickers ins Haar.“ Klaus wurde nun wirklich wütend. „Gar nix kriegst Du. Ist denn da sonst keiner, der mir helfen kann?“
„Doch, da steht noch einer“, brummte es durch die Tür. „Aber der ist schwerhörig, der versteht Dich nicht. Aber der kann das Morsealphabet. Musst ihm halt morsen, was Du willst.
Auf dem Platz ahnte man nichts von den beinharten Verhandlungen 50 Meter weiter, die zunehmend an den Streit der Supermächte im kalten Krieg erinnerten. Der BSC hatte sich sogar eine leichte Feldüberlegenheit erspielt, aber da die Abspiele immer noch mangelhaft waren, zahlte sich das nicht aus. Immerhin: Es gab gute Chancen. Einmal flankte Manni von links schön in die Mitte, der Ball wurde abgewehrt, bevor Hansi dran kam. Dann prallte ein Schuss von Manni an den Torpfosten, und Ebi köpfte nach einem Eckball nur knapp übers Tor. Auf der Gegenseite verhinderte Ebi mit couragiertem Einsatz mal eine gute Zehlendorfer Torchance.
In Kabine 20 versuchte sich Klaus verzweifelt ans Morsealphabet zu erinnern. Er hatte es mal gelernt, und er hatte auch ein gutes Gedächtnis, aber es war doch ein paar Jahre her. Aber je mehr er nachdachte, um so besser wurden seine Erinnerungen. Allerdings waren seine Erinnerungen doch nicht ganz perfekt. Hochkonzentriert wollte er nun die gleiche Botschaft morsen, die er dem Schwaben zugebrüllt hatte. Doch da Klaus einerseits nicht perfekt morsen und die Zeichen auch nicht ganz mängelfrei übersetzen konnte, entwickelte sich ein etwas ungelenker Dialog:
„Meine Tante ist eingeklemmt“, hämmerte Klaus. „Sie braucht einen Schlüssel. Er liegt im Auto neben dem Fußballplatz. Kennzeichen 20.“
„Was für ein Auto?“, hämmerte der Schwerhörige zurück.
„Ich stecke im Handtuch fest. Hausnummer 20. Der Schlüssel spielt Fußball, er braucht dringend Hilfe.“
„Wer braucht Hilfe? Der Fußball? Oder der Schlüssel? Und verdammt noch mal, was ist jetzt mit dem Auto? Und wo steckt die Tante?“
Meine Tante steckt im Handtuch. 20 Mal. Braucht dringend Hilfe. Bitte sofort Platzwart nach Kaffee fragen.“
„Tante im Handtuch? Kaffee? Platzwart? Sag mal, willst Du mich verarschen“ Der Schwerhörige war eine Seele von Mensch, er war Lesepate in der Kita Sonnenschein am Alboinplatz, niemand konnte behaupten, dass er nicht hilfsbereit sei. Aber niemand konnte ihn auch für dumm verkaufen. Er holte sich einen duftenden Kaffee.
Auf dem Platz schoss Hertha Zehlendorf noch das 0:3. Hartmut, der dankenswerterweise eingesprungen war, der auch gut durchhielt aber irgendwann am Ende seiner Kräfte war, konnte einen Gegenspieler nicht mehr halten; der schoss, Tor, Pech. In der Folgezeit sollte keine Ruhe ins Spiel des BSC kommen. Zu hektisch, zu unüberlegt war der Spielaufbau.
Auch Klaus hatte in seiner Kabine keine Ruhe. Sein Gebrüll und seine donnernden Schläge gegen die Kabinentür waren nicht unbemerkt geblieben. Nach und nach schlenderten Zuschauer heran, bis sich schließlich eine kleine Menschengruppe vor Kabine 20 versammelt hatte, die erst mal allerdings nur zuhörte, wie Klaus sich die Lungen aus dem Leib brüllte. So etwas war ja eine nette Abwechslung an einem herbst-kalten Sonntag. Schließlich meldete sich eine junge Frau in Jeans und grünen Haarsträhnen. „Ich hol Dich da raus, aber ich bin Vegetarierin. Ich helfe keinem Fleischfresser. Aus Prinzip. Hast Du Mitleid mit Tieren? Isst Du Fleisch?“
Klaus, der die Gedanken an die Wiener Schnitzel mit Pommes, die er im BSC-Casino vertilgt hatte, souverän beiseite schob, versicherte brüllend, dass er Metzger verabscheue und für einen schmackhaften Salat auf einem Bein um den Schlachtensee hüpfen würde. Im Sommer spaziere er manchmal sogar durch den Wald und grabe nahrhafte Wurzeln aus. Außerdem werde er gerne 10 Euro für die Berliner Vegetariervereinigung spenden.
Sekundenlang herrschte Stille vor der Tür. Klaus hatte schon die verzweifelte Hoffnung, dass das Mädchen verschwunden war, um den Platzwart zu suchen. Aber dann ertönte ihre Stimme: „Nee, ich glaube Dir nicht. Das mit den Wurzeln, ich glaube, das war gelogen.“
„Blöde Kuh“, brüllte Klaus in ohnmächtigen Zorn.
Aber der Hinweis mit den zehn Euro hatte andere Zuhörer zum Nachdenken gebracht. Da hier etwas zu holen war und die Menge durchaus solidarisch dachte, entwickelte sich ein interessantes Bieterverfahren. Nach 20 Minuten durchaus harten Feilschens hatte sich Klaus im Gegenzug zu seiner sofortigen Freilassung bereiterklärt, 20 Euro für den Tierschutzverein Lankwitz zu spenden, am nächsten Samstag bei einem Umzug in Kreuzberg zu helfen, den Rasen eines Rentners zu mähen, den verzottelten Hund eines arbeitslosen Philosophen eine Stunde lang auszuführen und den Mannschaftsbus von Turbine Potsdam zu waschen.
Mit metallischen Geräuschen drehte sich der Schlüssel zu Kabine 20, die Menge ließ Klaus heraus, der inzwischen nur noch krächzen konnte und nickte ihm beifällig zu. Klaus war viel zu erschöpft, um noch irgendwie weiter zu debattieren. Er wollte jetzt nur noch eines: einen heißen, duftenden Kaffee. Mit wackeligen Schritten ging er zu dem Fenster des Casinos, aus dem bis dahin zahllose Kaffee verkauft worden waren. Wirklich zahllose.
„Ein heißer Kaffee mit Milch bitte“, krächzte Klaus.
„Hamwer nicht mehr“, erwiderte Cindy, aufgewachsen in Lichtenberg.
Frank B.
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
2 Kommentare:
Hallo Frank, ganz große Poesie - wohnst Du in Friedenau??
Du bist mittlerweile für die ganz grossen Highlights unserer Dreamteamseite verantwortlich. Super.
Kommentar veröffentlichen