21. Januar 2012

Knie sucks - Warum ich Fußball nicht mehr spiele

Das letzte, woran ich mich erinnern kann, ist ein ein lauter Knall. Als würde ein Keilriemen reißen. Ich gleite sanft zur Seite, alles Blut aus meinem Hirn schiesst in mein linkes Bein. Mein Kopf dözt auf dem Betonboden auf, federt leicht ab, und dözt nochmal. Das Blut aus meinem Bein schießt zurück in meinen Kopf und sprudelt in lustigen Fontänen aus meinen Haaren hervor. Ich bin ein Springbrunnen. Dann wird alles schwarz, der Vorhang fällt. Ich höre Englein gröhlen. Sie trinken Bier und singen shalalalala.

Ich schlage die Augen auf. Über mir haben sich ein halbes dutzend besorgter Gesichter versammelt. Sie sagen meinen Namen. Alle sind kreidebleich. Dann reden sie wirres Zeug, alle durcheinander. Mein Trainer fällt in Ohmacht. Das macht er sonst nur nach dem siebten Bier mit Klarem. Irgendjemand nimmt den Flachmann aus seiner Tasche und hält ihm ein wenig Schnaps unter die Nase. Mein Trainer röchelt.
Altaaaaar, sagt er. Und dann nochmal. Altaaaaaar.
Ich versuche, mich zu konzentrieren, als es mich durchfährt. Aus dem linken Bein heraus strahlt ein ziehender Schmerz durch meinen ganzen Körper. Ich schaue nach unten: da, wo eigentlich mein Fuß sein sollte, ist der Boden. Mein Fuß liegt drei Zentimeter zu weit links, hat sich um 60° weggedreht und tut so, als hätte er nichts mit mir zu schaffen. Ich richte mich ein wenig auf, um zu sehen, was da unten eigentlich los ist. Wo vormals mein Knie war, befindet sich ein ungefähr handballgroßer Fleischknödel, der leise vor sich hinpulsiert. Mein Knie hat sich in den größten Königsberger Klops verwandelt, den es gibt.
Ich schreie kurz und falle dann sicherheitshalber nochmal in Ohnmacht.
Als ich ein zweites Mal zu mir komme, bin ich auf eine Trage geschnallt. Zwei Zivildienstleistende von den Johannitern rollen mich aus der Halle in ihren Wagen. Sie stellen das Martinshorn an, das ist toll. Ich fühle mich plötzlich ganz schön wichtig. Als kleines Kind habe ich mir immer gewünscht, mal mit Blaulicht durch die Stadt gefahren zu werden: mitunter deswegen habe ich mit sechs mal anderthalb Tollkirschen verschluckt. Meine Mutter hatte mir versprochen, dass, wenn ich von den Beeren esse, ich ganz schnell ins Krankenhaus muss. Leider hatte ich nicht darauf geachtet, dass Erwachsene in der Nähe sind. Deswegen lag ich knapp vier Stunden sabbernd und kotzend hinter unserem Gartenhaus. Vermutlich habe ich während dieses kurzen Tripps einen Gutteil meiner Intelligenz eingebüßt, weswegen ich später manischer Fußballspieler werden musste. Meine Mutter sagte mir, dass ich, weil ich den Trip überhaupt überlebt hätte, sehr großes Glück gehabt hätte, aber ich fand das nicht: als sie mich fanden, war es nämlich zu spät, um den Notarzt zu rufen, deswegen durfte ich nie mit Blaulicht durch die Stadt gefahren werden.
Jetzt schon. Auf der Fahrt ins Krankenhaus denke ich kurz, wie das gekommen war mit dem Knie. Normalerweise entscheidet sich so ein Knie ja nicht von heute auf morgen zu einem Stellungswechsel. Ich weiß noch, dass es ein Hallenturnier gewesen ist: und ich weiß, dass mein Gegenspieler drei Köpfe größer (mindestens) und doppelt so schwer war wie ich. Außerdem weiß ich, dass irgendein Arschloch einen Rückpass gespielt hatte, wie man sie sonst nur von Jerome Boateng kennt, und mir mein Gegenspieler zu entwischen drohte. Ich glaube, das mit dem Rückpass war ich. Und ich weiß, dass ich ihn von hinten sanft umgehauen habe. Ganz vorsichtig. Dabei ist er, wie beabsichtigt, ins Straucheln geraten: nicht beabsichtigt allerdings war, dass mein Knie seinen Aufprall in der Form abmilderte, als dass es genau zwischen seinem erstaunlich spitzen Hüftknochen und dem Betonboden zu liegen kam. Genauer gesagt, kam er direkt zwischen der Patella, dem seitlichen Kondylus und der Knorpelmasse auf: eine Punktlandung. Ein Terroranschlag hätte nicht besser treffen können.
Die Zivildienstleistenden unterhalten sich derweil über ihre Wocheneskapaden. Hin und wieder spritzen sie mir was.
- Ähm, sage ich. Was gebt ihr mir da eigentlich?
- Na, Schmerzmittel! Ist doch klar.
- Ja, nee, is klar. Sollte nicht ein Arzt entscheiden, was ich so kriege?
- Sag mal, bist Du Privatpatient oder was? Wir haben Ärztemangel! Lies mal ein bisschen Zeitung, damit Du weißt was Sache ist, verdammt!
- Zum Zeitunglesen hab ich wenig Zeit.
Er schaut mir kurz auf mein Knie und sagt dann:
- Naja, das wird sich ja jetzt ändern die nächsten Monate.
Er wendet sich wieder dem Fahrer zu. Während der vorne mit 120 Sachen über rote Ampeln brettert, unterhalten sie sich über ihr Wochenende. Ihren Erzählungen zufolge haben sie reichlich Erfahrungen mit allen Medikamenten, die hier so rumliegen, insbesondere in Zusammenspiel mit Alkohol. Ich erfahre, dass das Mittel, das sie mir verabreichten, stundenlange Erektionsstörungen als Nebenwirkung hatte, und außerdem, kombiniert mit Whiskey, herbe Halluzinationen hervorrufen kann, manchmal.
Ich seufze erleichtert. Die wissen, wovon sie sprechen. Ich bin in guten Händen.
Bis dahin war ich von gröberen Verletzungen immer verschont geblieben: ich spielte seit meinem sechsten Lebensjahr Fußball, eigentlich immer Rechtsaußen. Ich war ein ganz passabler Spieler, auch wen ich mich für großartig hielt, weil hin und wieder ein größerer Verein auf mich zukam um zu fragen, ob ich mir einen Wechsel vorstellen könnte. Erst neulich hatte der Freiburger FC angerufen, naja. Eigentlich wars andersrum. Eigentlich hab ich angerufen. Aber das hab ich meinen Freunden nicht gesagt. Ich hab ihnen auch nicht gesagt, dass der Freiburger FC angerufen hat, sondern immer nur Freiburg. Und wenn dann einer, der meine Fußballkünste kannte und das nicht glauben wollte, laut ausrief: Der Volker Finke?, hab ich mit dem Kopf gewippt. Selber Schuld, wenn die das als Nicken interpretieren! Kann ich doch nichts machen, wenn die sich da so verrennen!
Meine Zivis karren mich ins Krankenhaus. Sie fahren mich direkt in die Radiologie. Dort werde ich in einen Computertomographen gesteckt. Ein Computertomograph ist dazu da, Leuten, die vermutlich eine schlimme Diagnose erwartet, zu vermitteln, wie es sich anfühlt, in einem Sarg zu liegen. Wer unter Platzangst leidet, der stirbt auch ganz gerne mal bei der Behandlung. Das gibt dann gute Bilder, da freut sich der Radiologe, weil man muss ganz still halten, ansonsten verschwimmen die Konturen. Nach einigen Minuten fängt der Apparat an zu rattern, zuerst leise, dann ein wenig lauter, und dann RATTERRATTERRATTERRATTER. Man kommt sich schnell vor wie in einer abstürzenden Raumkapsel. Oder eingesperrt in einem Boxenturm im Berghain.
30 Minuten später hängt der Arzt die Bilder auf. Was ich sehen kann, haben sich meine Bänder in einen Teller Tagliatelle Carbonara verwandelt. Es ist so ziemlich alles gerissen, was zu reißen geht, die Patella-Sehne, das innere Kreuzband, das Außenband, die Quadriceps-Sehne. Außerdem hatte der Knorpel was abbekommen, „nach einem Meniskus sieht das aber nicht mehr aus“, sagt er und lächelt der Schwester verschwörerisch zu. „Das da – er zeigt auf irgendeinen hellen Fleck, der verloren ganz am Rand rumgeistert – das da ist übrigens ihr Wadenbeinköpfchen.“ Als ich ihn Frage, ob das da hingehört, lacht er hysterisch. Ausserdem hat sich die Kniescheibe in die Oberschenkelmuskulatur geschoben, mehrere Faserrisse sind die Folge. Nur das äußere Kreuzband und das Innenband haben gegen jede Wahrscheinlichkeit gehalten, weswegen ich meinen Unterschenkel nur um 60° verdrehen kann. „Aber keine Sorge, sagt der Arzt, auch mit den 60 ° Spiel, die Sie jetzt haben, nimmt Sie jeder Zirkus mit Handkuss.“ Und dann sagt er: „Dass das da überhaupt noch dranhängt, versteh ich nicht.“ Als er sich zu mir hindreht, sehe ich Begeisterung in seinen Augen. „Ich muss Sie dringend meinen Kollegen zeigen! Das glauben die mir nie.“ Und dann, mit vor Aufregung bebender Stimme: „Darf ich Sie operieren?“
Das ist jetzt zehn Jahre her. Fußballspielen kann ich nicht mehr. Treppensteigen geht noch, bloß schwer tragen darf ich nicht. Das ist insbesondere bei Freundesumzügen immer eine famose Ausrede. Ich scanne die CT-Bilder ein und schicke sie unter dem Betreff „Dies war mal ein Knie von mir“ an die entsprechende Anfrage. Häufig bekomme ich danach Blumen geschickt, oder Kuchen. Joggen geht auch nicht mehr so recht, insgesamt ist Bewegung eher schlecht. Das kommt meinem Naturell entgegen, deswegen bin ich da gar nicht so unglücklich drüber.
Dafür les ich jetzt ganz viel Zeitung. Und ich mach auch keinen Sport mehr. Außer Radlern! Prost!


Quelle: Spreeblick - mit freundlicher Genehmigung von Frédéric Valin, dessen famoses Blog: Zum Blonden Engel hier nachdrücklich weiterempfohlen sei.

1 Kommentar:

Eljay hat gesagt…

Um allen Anfragen vorzubeugen: Meinem Knie geht es wieder vergleichsweise gut. Gelenkerguß und Kapselverletzung nach einer Kniescheibenverrenkung (Patellaluxation). Sechs Wochen Physiotherapie und Mitte/ Ende März geht's hoffentlich wieder.