Das letzte, woran ich mich erinnern kann, ist ein ein lauter Knall.
Als würde ein Keilriemen reißen. Ich gleite sanft zur Seite, alles Blut
aus meinem Hirn schiesst in mein linkes Bein. Mein Kopf dözt auf dem
Betonboden auf, federt leicht ab, und dözt nochmal. Das Blut aus meinem
Bein schießt zurück in meinen Kopf und sprudelt in lustigen Fontänen aus
meinen Haaren hervor. Ich bin ein Springbrunnen. Dann wird alles
schwarz, der Vorhang fällt. Ich höre Englein gröhlen. Sie trinken Bier
und singen shalalalala.
Ich
schlage die Augen auf. Über mir haben sich ein halbes dutzend besorgter
Gesichter versammelt. Sie sagen meinen Namen. Alle sind kreidebleich.
Dann reden sie wirres Zeug, alle durcheinander. Mein Trainer fällt in
Ohmacht. Das macht er sonst nur nach dem siebten Bier mit Klarem.
Irgendjemand nimmt den Flachmann aus seiner Tasche und hält ihm ein
wenig Schnaps unter die Nase. Mein Trainer röchelt.
Altaaaaar, sagt er. Und dann nochmal. Altaaaaaar.
Ich
versuche, mich zu konzentrieren, als es mich durchfährt. Aus dem linken
Bein heraus strahlt ein ziehender Schmerz durch meinen ganzen Körper.
Ich schaue nach unten: da, wo eigentlich mein Fuß sein sollte, ist der
Boden. Mein Fuß liegt drei Zentimeter zu weit links, hat sich um 60°
weggedreht und tut so, als hätte er nichts mit mir zu schaffen. Ich
richte mich ein wenig auf, um zu sehen, was da unten eigentlich los ist.
Wo vormals mein Knie war, befindet sich ein ungefähr handballgroßer
Fleischknödel, der leise vor sich hinpulsiert. Mein Knie hat sich in den
größten Königsberger Klops verwandelt, den es gibt.
Ich schreie kurz und falle dann sicherheitshalber nochmal in Ohnmacht.
Als
ich ein zweites Mal zu mir komme, bin ich auf eine Trage geschnallt.
Zwei Zivildienstleistende von den Johannitern rollen mich aus der Halle
in ihren Wagen. Sie stellen das Martinshorn an, das ist toll. Ich fühle
mich plötzlich ganz schön wichtig. Als kleines Kind habe ich mir immer
gewünscht, mal mit Blaulicht durch die Stadt gefahren zu werden:
mitunter deswegen habe ich mit sechs mal anderthalb Tollkirschen
verschluckt. Meine Mutter hatte mir versprochen, dass, wenn ich von den
Beeren esse, ich ganz schnell ins Krankenhaus muss. Leider hatte ich
nicht darauf geachtet, dass Erwachsene in der Nähe sind. Deswegen lag
ich knapp vier Stunden sabbernd und kotzend hinter unserem Gartenhaus.
Vermutlich habe ich während dieses kurzen Tripps einen Gutteil meiner
Intelligenz eingebüßt, weswegen ich später manischer Fußballspieler
werden musste. Meine Mutter sagte mir, dass ich, weil ich den Trip
überhaupt überlebt hätte, sehr großes Glück gehabt hätte, aber ich fand
das nicht: als sie mich fanden, war es nämlich zu spät, um den Notarzt
zu rufen, deswegen durfte ich nie mit Blaulicht durch die Stadt gefahren
werden.
Jetzt schon. Auf der Fahrt ins Krankenhaus denke ich
kurz, wie das gekommen war mit dem Knie. Normalerweise entscheidet sich
so ein Knie ja nicht von heute auf morgen zu einem Stellungswechsel. Ich
weiß noch, dass es ein Hallenturnier gewesen ist: und ich weiß, dass
mein Gegenspieler drei Köpfe größer (mindestens) und doppelt so schwer
war wie ich. Außerdem weiß ich, dass irgendein Arschloch einen Rückpass
gespielt hatte, wie man sie sonst nur von Jerome Boateng kennt, und mir
mein Gegenspieler zu entwischen drohte. Ich glaube, das mit dem Rückpass
war ich. Und ich weiß, dass ich ihn von hinten sanft umgehauen habe.
Ganz vorsichtig. Dabei ist er, wie beabsichtigt, ins Straucheln geraten:
nicht beabsichtigt allerdings war, dass mein Knie seinen Aufprall in
der Form abmilderte, als dass es genau zwischen seinem erstaunlich
spitzen Hüftknochen und dem Betonboden zu liegen kam. Genauer gesagt,
kam er direkt zwischen der Patella, dem seitlichen Kondylus und der
Knorpelmasse auf: eine Punktlandung. Ein Terroranschlag hätte nicht
besser treffen können.
Die Zivildienstleistenden unterhalten sich derweil über ihre Wocheneskapaden. Hin und wieder spritzen sie mir was.
- Ähm, sage ich. Was gebt ihr mir da eigentlich?
- Na, Schmerzmittel! Ist doch klar.
- Ja, nee, is klar. Sollte nicht ein Arzt entscheiden, was ich so kriege?
- Sag mal, bist Du Privatpatient oder was? Wir haben Ärztemangel! Lies
mal ein bisschen Zeitung, damit Du weißt was Sache ist, verdammt!
- Zum Zeitunglesen hab ich wenig Zeit.
Er schaut mir kurz auf mein Knie und sagt dann:
- Naja, das wird sich ja jetzt ändern die nächsten Monate.
Er
wendet sich wieder dem Fahrer zu. Während der vorne mit 120 Sachen über
rote Ampeln brettert, unterhalten sie sich über ihr Wochenende. Ihren
Erzählungen zufolge haben sie reichlich Erfahrungen mit allen
Medikamenten, die hier so rumliegen, insbesondere in Zusammenspiel mit
Alkohol. Ich erfahre, dass das Mittel, das sie mir verabreichten,
stundenlange Erektionsstörungen als Nebenwirkung hatte, und außerdem,
kombiniert mit Whiskey, herbe Halluzinationen hervorrufen kann,
manchmal.
Ich seufze erleichtert. Die wissen, wovon sie sprechen. Ich bin in guten Händen.
Bis
dahin war ich von gröberen Verletzungen immer verschont geblieben: ich
spielte seit meinem sechsten Lebensjahr Fußball, eigentlich immer
Rechtsaußen. Ich war ein ganz passabler Spieler, auch wen ich mich für
großartig hielt, weil hin und wieder ein größerer Verein auf mich zukam
um zu fragen, ob ich mir einen Wechsel vorstellen könnte. Erst neulich
hatte der Freiburger FC angerufen, naja. Eigentlich wars andersrum.
Eigentlich hab ich angerufen. Aber das hab ich meinen Freunden nicht
gesagt. Ich hab ihnen auch nicht gesagt, dass der Freiburger FC
angerufen hat, sondern immer nur Freiburg. Und wenn dann einer, der
meine Fußballkünste kannte und das nicht glauben wollte, laut ausrief:
Der Volker Finke?, hab ich mit dem Kopf gewippt. Selber Schuld, wenn die
das als Nicken interpretieren! Kann ich doch nichts machen, wenn die
sich da so verrennen!
Meine Zivis karren mich ins Krankenhaus. Sie
fahren mich direkt in die Radiologie. Dort werde ich in einen
Computertomographen gesteckt. Ein Computertomograph ist dazu da, Leuten,
die vermutlich eine schlimme Diagnose erwartet, zu vermitteln, wie es
sich anfühlt, in einem Sarg zu liegen. Wer unter Platzangst leidet, der
stirbt auch ganz gerne mal bei der Behandlung. Das gibt dann gute
Bilder, da freut sich der Radiologe, weil man muss ganz still halten,
ansonsten verschwimmen die Konturen. Nach einigen Minuten fängt der
Apparat an zu rattern, zuerst leise, dann ein wenig lauter, und dann
RATTERRATTERRATTERRATTER. Man kommt sich schnell vor wie in einer
abstürzenden Raumkapsel. Oder eingesperrt in einem Boxenturm im
Berghain.
30 Minuten später hängt der Arzt die Bilder auf. Was ich
sehen kann, haben sich meine Bänder in einen Teller Tagliatelle
Carbonara verwandelt. Es ist so ziemlich alles gerissen, was zu reißen
geht, die Patella-Sehne, das innere Kreuzband, das Außenband, die
Quadriceps-Sehne. Außerdem hatte der Knorpel was abbekommen, „nach einem
Meniskus sieht das aber nicht mehr aus“, sagt er und lächelt der
Schwester verschwörerisch zu. „Das da – er zeigt auf irgendeinen hellen
Fleck, der verloren ganz am Rand rumgeistert – das da ist übrigens ihr
Wadenbeinköpfchen.“ Als ich ihn Frage, ob das da hingehört, lacht er
hysterisch. Ausserdem hat sich die Kniescheibe in die
Oberschenkelmuskulatur geschoben, mehrere Faserrisse sind die Folge. Nur
das äußere Kreuzband und das Innenband haben gegen jede
Wahrscheinlichkeit gehalten, weswegen ich meinen Unterschenkel nur um
60° verdrehen kann. „Aber keine Sorge, sagt der Arzt, auch mit den 60 °
Spiel, die Sie jetzt haben, nimmt Sie jeder Zirkus mit Handkuss.“ Und
dann sagt er: „Dass das da überhaupt noch dranhängt, versteh ich nicht.“
Als er sich zu mir hindreht, sehe ich Begeisterung in seinen Augen.
„Ich muss Sie dringend meinen Kollegen zeigen! Das glauben die mir nie.“
Und dann, mit vor Aufregung bebender Stimme: „Darf ich Sie operieren?“
Das
ist jetzt zehn Jahre her. Fußballspielen kann ich nicht mehr.
Treppensteigen geht noch, bloß schwer tragen darf ich nicht. Das ist
insbesondere bei Freundesumzügen immer eine famose Ausrede. Ich scanne
die CT-Bilder ein und schicke sie unter dem Betreff „Dies war mal ein
Knie von mir“ an die entsprechende Anfrage. Häufig bekomme ich danach
Blumen geschickt, oder Kuchen. Joggen geht auch nicht mehr so recht,
insgesamt ist Bewegung eher schlecht. Das kommt meinem Naturell
entgegen, deswegen bin ich da gar nicht so unglücklich drüber.
Dafür les ich jetzt ganz viel Zeitung. Und ich mach auch keinen Sport mehr. Außer Radlern! Prost!
Quelle: Spreeblick - mit freundlicher Genehmigung von Frédéric Valin, dessen famoses Blog: Zum Blonden Engel hier nachdrücklich weiterempfohlen sei.
21. Januar 2012
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1 Kommentar:
Um allen Anfragen vorzubeugen: Meinem Knie geht es wieder vergleichsweise gut. Gelenkerguß und Kapselverletzung nach einer Kniescheibenverrenkung (Patellaluxation). Sechs Wochen Physiotherapie und Mitte/ Ende März geht's hoffentlich wieder.
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