30. September 2012

Milch für Helgoland

Die Milch konnte nichts dafür, sie war ja bloß das Lockmittel. Für diese raffinierte Strategie, für diesen bisher einmaligen Versuch, mit besonderen Mitteln zu gewinnen. Und sie funktionierte ja auch, diese Strategie. Am Ende stand die bittere Erkenntnis: Die Spieler des BSC sind zu fair. Sie sind zu hilfsbereit. Sie sind zu anständig. Sie sind zu gut für diese Welt. Anders gesagt: Sie sind zu dumm.


Deshalb haben sie ja auch 2:5 verloren.

Alles begann ganz harmlos, deshalb durchschaute ja auch niemand diesen Plan. Der BSC spielte gegen Helgoland, es war kühl, der Himmel Wolkenverhangen, neben der Linie warteten als Auswechselspieler Casino-Carsten und Klaus Schmid. Plötzlich ging ein Spieler von Helgoland schmerz verkrümmt in die Knie und sank dann in Zeitlupe auf dem Rasen. „Milch“ krächzte er. Milch? Carsten und Klaus verstanden nicht. Was ist mit der Milch? Lag der Kerl schon im Fiebertraum und halluzinierte? Dachte er etwa an seinen letzten Urlaub auf dem Bauernhof?

Nee, er dachte an ein Glas Milch. „Hast du Milch?“, krächzte er zu Carsten. Der verstand immer noch nicht. Er stand hier in kurzen Hosen und im Trikot, er hatte seine Fußballschuhe an, wie, zum Teufel, sollte er hier ein Glas Milch haben? Er hatte ja nicht mal einen Busen. Auf dem hätte er ja vielleicht noch ein paar Tropfen rauspressen können. Aber der andere gab nicht auf. Er musste vorher ausspioniert haben, dass Carsten der Wirt des Casinos ist.

„Ich habe Sodbrennen, ich brauche Milch, kannst Du mir eine holen.“
In dieser Sekunde entschied sich alles. Das war der Moment, in dem die Frage beantwortet wurde: Geht der Plan auf oder scheitert er?
Er ging auf.
Denn Carsten trottete los und holte Milch. Das war sehr nett von ihm, sehr anständig. Das war vor allem aber sehr dumm.
Denn bis dahin lag der BSC gut im Rennen. Helgoland hatte zwar zwei sehr schnelle Leute, Leute, die im direkten Laufduell einfach nicht zu stoppen sind, die auch technisch sehr gut waren, deshalb lagen die Gäste auch 2:0 in Führung. Doch gleichzeitig zeigte Peter im Tor auch einige gute Paraden, Andreas kämpfte in der Abwehr sehr gut und attackierte immer wieder, Olaf räumte als Libero viel weg, und der Kampfgeist war gut.
Deshalb hatte der BSC auch schnell zum 2:2 ausgeglichen. Der BSC hatte bis dahin schon einige gute Torchancen, er hatte mit Kopfbällen für enorme Gefahr gesorgt. Und dann setzte sich Frank Möller auf der rechten Seite durch, er schlug eine maßgerechte Flanke in den Strafraum, und dort erzielte Marco, der sich offenbar nur noch von Spurenelementen ernährt, mit einem wuchtigen Kopfball das 1:0. Marco hatte sich dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt, weil ein Spieler wegen einer Verletzung kurzfristig ausgefallen war. Carsten und Klaus kamen erst verspätet zum Spiel.

Nur Minuten später erkämpfte sich Olaf Altenburg den Ball, Olaf bemüht sich vorne sowieso immer, und jetzt wurde sein Kampfgeist belohnt. Er schnappte sich den Ball und zog kaltblütig ab. Das 2:2, und das Führungstor war nach den vorgegangenen Chancen gut möglich.
Das war der Punkt, in dem das „Kommandounternehmen Milch“ startete. Der Plan. Der Plan lautete: Wir schwächen den Gegner nominell. Und zwar so raffiniert, dass die anderen keinen Verdacht schöpfen.

Die Frage nach der Milch hatte natürlich nur einen Sinn: Helgoland wollte testen, ob sich der BSC für solche Hilfsdienste einspannen lässt.

Während Carsten im Casino Milch in ein Glas goss, war von Sodbrennen keine Rede mehr. Der angebliche Kranke rannte überaus dynamisch übers Feld. Er wusste jetzt, was er wissen musste. Die BSC-Spieler lassen sich manipulieren. Bei einem Ersatzspieler hatte es geklappt. Jetzt kam die zweite Stufe des Unternehmens. Jetzt musste ein aktiver Spieler unauffällig aussortiert werden.
Dazu spielte die Pause eine bedeutsame Rolle. Als der BSC in seiner Kabine hockte, ging plötzlich die Tür auf und ein Helgoland-Spieler steckte seinen Kopf rein: „Sorry, Leute“, sagte er, „tut mir leid, dass ich störe. Aber ich habe eine dringende Bitte an Euch. An meinem Auto brennt noch das Licht, ein roter Toyota, Kennzeichen B – SU 4592. Steht in der Nähe des Luther-Krankenhauses. Kann jemand von Euch mal das Licht ausmachen? Ich kann nicht, muss ja spielen.“

Stefan Krappweis, von allen anwesenden anständigen BSC-Spielern sowieso der anständigste, stand auf und sagte: „Klar, mache ich.“ Der Helgoländer warf ihm mit dankbarem Kopfnicken den Schlüssel zu. Stefan zog ab. Drei Minuten später kam der nächste Helgoland-Spieler. Der suchte jemanden, der an einer Tankstelle Blumen für seine Frau brauchte. Hochzeitstag, ihr versteht. Andreas verschwand.

Als der BSC wieder auf den Platz ging, hatte er zwei Mann verloren. Das rächte sich schnell, Helgoland erzielte das 3:2. Aber der BSC gab nicht auf, er drängte auf den Ausgleich. Pete im Tor überzeugte wieder mit guten Aktionen, Olaf ackerte weiter engagiert in der Abwehr, Frank Möller servierte wieder Pässe und Flanken. Und Klaus Schmid arbeitete wie immer und hatte eine gute Zweikampf-Bilanz. Bei Helgoland schrillten die Alarmglocken. Die dritte Stufe des Plans musste her.

In der 60. Minute nahm sich ein Spieler von Helgoland Klaus Schmid zur Seite. „Hör mal, ich habe vor ein paar Wochen da drüben im Gebüsch eine kleine Star-Wars-Figur von meinen Sohn verloren“, sagte er und deutete auf das Dickicht über den Klappsitzen. Klaus nickte verständnisvoll und machte sich auf ins Grün. Drei Minuten später erzielte Helgoland das 4:2, der Durchbruch erfolgte genau auf der Position, die Klaus besetzt hatte. Plötzlich hastete Stefan Kappweis heran. „Hee“, brüllte er an der Seitenlinie übers Feld, „ich kann das Auto nicht finden. Wo steht es denn genau?“ – „Lynarstraße“, dröhnte es zurück. Stefan hastete wieder davon. Aus dem Gebüsch hört man Geraschel, ab und zu schimmerte auch das Gelb von Olafs Trikot durch die grünen Blätter.

Auf dem Platz war Dietmar auf der linken Seite von Frank Möller schön in Szene gesetzt worden, flankte nach innen, aber der Ball wurde abgewehrt. Olaf hatte keine Chance, an den Ball zu kommen. Doch das Zeichen war unübersehbar: Der BSC drängte weiter, er wollte auch in Unterzahl den Anschlusstreffer. Helgoland musste reagieren.
Stufe vier leitete ein Spieler ein, der Dietmar am Trikot zupfte. „Du, meine Frau sitzt da oben auf der Tribüne. Die hat Probleme mit der Bedienung ihres smart phones. Kannst Du ihr da helfen.“ Dietmar überlegte unschlüssig. „Ich kann’s ja mal probieren“, sagte er schließlich und marschierte dann zur Tribüne zu einer jüngeren Frau in schwarzen Jeans.
Gerade als er sich neben ihr niederließ, streckte Olaf freudestrahlend seinen Kopf durch die Blätter. „Ich habe was gefunden“, brüllte er triumphierend. Er streckte ein verrostetes Matchbox-Auto in die Luft. „Ist zwar nicht die Figur, aber vielleicht macht ihm das hier auch Spaß.“

Alle Helgoländer drehten sich zu Olaf um und applaudierten. Diesen Moment nutze der BSC zu einer weiteren Chance, die aber knapp vergeben wurde. Dietmar drückte währenddessen immer wieder etwas ratlos auf das Display des smart phones. Er fehlte leider auf dem Platz, Helgoland nützte es zum 5:2 aus, auch weil der BSC jetzt immer stärker auf einen Anschlusstreffer gesetzt hatte und mit fast allen Mann stürmte. Damit war alles entschieden, Abpfiff, der Plan hatte funktioniert.

In der Lynarstraße schaltete Stefan das Licht aus, Andreas tauchte mit Blumen auf, Olaf übergab ein verrostetes Matchbox-Auto, und Dietmar drückte seiner Nachbarin bedauernd ihr smart phone in die Hand. Carsten griff nach dem Michglas, das neben dem Platz stand. Es war noch voll.



Frank B.

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