18. Mai 2011

Schellenberg und Lucullus in Heiligensee

Eigentlich konnte gar nichts schief gehen. Das Hinspiel gegen Arminia Heiligensee hatte die 2. Alt Ü 40 souverän 9:3 gewonnen, das Rückspiel sollte also kein Problem darstellen. Die Mannschaft war motiviert, Hansi hatte sich neue Cremes gekauft, John hatte mehrere Kilo abgenommen, Klaus Schmid sein Navi repariert, und Esti hatte extra noch mal das Regelbuch durchgeackert, damit er einem 23-minütigen Dialog mit dem Schiedsrichter gewachsen war. Alles also war gut durch organisiert auf BSC-Seite. Trotzdem verlor die Mannschaft 0:1.

Denn mit Michael Schellenberg hatte niemand gerechnet.

Schellenberg trug bei Heiligensee die Nummer 3, spielte Verteidiger und nahm sofort John im Angriffszentrum in Manndeckung. Zwei Minuten waren gespielt, der BSC startete seinen ersten Angriff, da sagte Schellerberg plötzlich: „Du hast da total schöne Kontraste. Das weiche Pastinaken-Püree zum Beispiel mit der knackig karamellisierten Pastinake.“ – „Wie bitte“, fragte John irritiert. Der Ball rollte einen Meter an ihm vorbei, er verpasste ihn, irgendetwas, das wie Püree klang, hatte ihn abgelenkt. Er ärgerte sich nur kurz, kann passieren, er hatte sich bestimmt einfach nur verhört. Er wechselte langsam die Seite, im Mittelfeld baute der BSC einen neuen Angriff auf. „Das Gemüse bürste ich nur, schäle es aber nicht, sondern schneide es in Scheiben und brate diese an“, sagte Schellenberg mit konzentriertem Blick, während er den Ball von Johns Fuß weg schlug. „Was quatscht Du denn da?“, fragte John etwas unbeherrscht zurück. Er hatte sich nicht verhört, der Typ da redete irgendwas vom Essen. Schellenberg fuhr ungerührt fort: „Dadurch, dass die Pastinake viel Restzucker hat, gibt das außen eine schöne Karamellschicht, richtig goldgelb sind die Scheiben dann.“ John blieb stehen, starrte Schellenberg an und schüttelte irritiert den Kopf. „He, Typ, haste irgendwie Probleme?“ Der Ball, von Frank Möller schön zugespielt, rollte neben John ins Aus. „Ach nee“, antwortete Schellenberg, „weißte, ich sattle um und mach gerade eine Kochlehre und habe übermorgen Prüfung. Ich muss da Vorspeise, Zwischengang, Hauptgericht und Dessert zubereiten. Jetzt gehe ich alles noch mal durch. Ist total spannend sag’ ich Dir. Kochst Du gerne?“ John, der gerade angetrabt war, blieb wieder stehen. Dann kratzte er sich am Kopf. „Naja, nicht so gerne. Ich ess’ eigentlich lieber. Aber ich mach gerade eine Diät. Ein paar Salatblätter zum Bier, mehr ist gerade nicht drin.“ Schellenberg zog die Brauen hoch. „Oh, Salat. Ist auch gut. Ich nehm’ Rhabarber zur Pastinake. Der ist zuerst dran, der muss durchziehen. Am besten nimmste säuerlichen, keinen zu reifer, zu süß darf er nicht sein.“ Er trabte neben John her, der den Ball, der ihm zugespielt wurde, erst im letzten Moment sah. Ein anderer Verteidiger von Heiligensee klärte.

Schellenberg sah versonnen dem Ball nach, in Gedanken war er woanders. „Du musst dann 300 Milliliter Banyuls einkochen, bis Sirup entsteht. Aber süßer Portwein geht auch.“ Er trabte neben John quer über den Platz. John spürte zunehmend aufwallende Hungergefühle. Vor seinen Augen formte sich ein Schweinebraten, eingelegt in süßen Portwein, drapiert mit Rhabarberstreifen. Seine Beine fühlten sich auf einmal schwer an. „Eine Hälfte der gebürsteten Pastinaken schneide ich in Scheiben, einen halben Zentimeter breit, die werden mit etwas Rapsöl in der Pfanne von jeder Seite goldgelb angebraten.“ Der Hinweis auf die goldgelb angebratenen Pastinaken gaben John den Rest. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, sein Magen rumorte, längst hatte er die Frage verdrängt, was zum Teufel eigentlich Pastinaken sind. Jetzt ging es nur noch ums nackte Überleben, verhungern oder essen. Er stürmte zur Seitenlinie, durchbrach mit roher Gewalt die Zuschauerreihe und hetzte ins Vereinsheim. „Drei Wiener Schnitzel, vier Portionen Pommes, aber sofort“, herrschte er die Frau hinterm Tresen an. Die zuckte zusammen und floh in die Küche. Hektische Geräusche von klappernden Pfannen und zischendem heißen Fett drangen zum Tresen. John seufzte erleichtert.
Auf dem Feld riss er allerdings eine Lücke. Karsten Krause rückte in den Sturm, sein Gegenspieler war Michael Schellenberg. „Als Zwischengang nehme ich eine ,Bouillabaisse anders’“, raunte er Karsten zu. Karsten hatte nichts von Schellenbergs Dialog mit John mitbekommen, er hatte sich nur gewundert, dass John wie ein flüchtender Elefant in der Serengeti plötzlich vom Platz gestürmt war. „Bouillabaisse anders ist mein Titel“, sagte Schellenberg dann mit zufriedenem Lächeln. Karsten starrte ihn an. Der Ball, der ihm mustergültig in den Lauf gespielt worden war, rollte achtlos an ihm vorbei. „Wie? Was, Bouillabaisse anders“?, fragte Karsten zurück. „Na, ganz einfach“, erwiderte Schellenberg. „Das ist eine raffinierte Abwandlung des Klassikers. Bei mir sind die spanischen Fideonudeln nicht etwa in schnödem Wasser gegart. Sie werden nur kurz frittiert, um ihre Oberfläche zu vergrößern, so können sie mehr Soße aufnehmen.“

Karsten blieb stehen und stemmte seine Fäuste in die Hüften. Er fixierte Schellenberg, hinter ihm rollte der Ball zum Heiligenseer Torhüter. „Und wo, bitte, ist der aromatische Bouillabaisse-Sud aus verschiedenen Fischsorten und Meeresfrüchten?“, fragte Karsten streng. Mit Kochen kannte er sich aus. Zufrieden beobachtete er seinen Bauch, der sich beachtlich unter seinem Trikot wölbte. Er hätte jetzt natürlich dem Ball hinterherlaufen können, der drei Meter vor ihm übers Feld rollte, aber das Problem mit dem Sud interessiert ihn jetzt mehr. „Pass mal auf“, sagte Schellenberg und fixierte nun ebenfalls seinen Gegenspieler. „Statt Zwiebel schwitze ich dünne Stücke vom Tintenfisch an, dazu kommen die Nudeln, anschließend wird dann mit Bouillabaisse-Sud aufgefüllt. Da hast Du’s“, sagte er triumphierend. Er verschränkte die Hände vor der Brust und schlug den Ball weg, den Boris eigentlich für Karsten Krause gedacht hatte.

Aber der neigte seinen Kopf und blickte Schellenberg fordernd an. „Und was machste mit dem Kalmar?“, fragte er. „Der liegt auf einem Streifen schwarzer Rouille, gefärbt mit Sepiatine, kurz von beiden Seiten gebraten“, antwortete Schellenberg lässig. Er musste sich hier nicht belehren lassen. Karsten unterbrach ihn. „Und dann beträufelst Du den Kalmar mit Salz?“ Da lachte Schellenberg kurz auf. „Ha“, stieß er hervor, „das denkst Du. Ich nehme einen Sud aus fermentierten Anchovis.“ Damit hatte Karsten nicht gerechnet. Er fühlte sich überrumpelt. Versonnen trabte er zur Seitenlinie, um über den Sud aus fermentierten Anchovis nachzudenken. Ein heftiger Kommentar von Boris scheuchte ihn aufs Feld zurück, er wurde aber sofort auf die rechte Abwehrseite strafversetzt. Aus dem Vereinsheim wehten leise schmatzende Geräusche und wohlige Kommentare zu ihm aufs Feld.

Für Karsten Krause wurde Olaf ins Sturmzentrum versetzt, Michael Schellenberg nahm auch ihn in Manndeckung. „Hm“, sagte Schellenberg und leckte sich die Lippen. „Beim Dessert bin ich mir nicht sicher. Vielleicht serviere ich ja ein Erdnussparfait mit Erdbeersorbet.“ Olaf rieb sich mit seinem rechten Zeigefinger im Ohr, er hatte das Gefühl, dass er irgendwas falsch verstanden haben musste. Aber dadurch konnte er den Ball, den ihm Stefan Krappweis zugespielt hatte, nicht mehr annehmen. „Oder soll ich doch New York Cheesecake nehmen mit einem saftig krümeligen Boden und Schokoladenblätter, die wie drei große Segel auf dem cake stecken?“ Schwere Frage. Olaf musste selber nachdenken. Er war da ja eher Traditionalist. „Also Erdbeereis mit Sahne“, brummte er, „das ist total gut. Ess’ ich für mein Leben gerne. Oder Vanilleeis mit ein paar Ananasscheiben.“ Beim Wort Ananas schüttelte es Schellenberg. „Ich bin total ökologisch und gesundheitsbewusst eingestellt“, erwiderte er streng. „Weißt Du, wie Ananas angebaut wird, wie viel Energie bei Transport und Ernte verschwendet wird? Nee, kommt mir nicht in die Tüte.“ Olaf war beleidigt, er wollte ja nur helfen. Trotzig blieb er mit Schmollmund stehen, die Hände vor der Brust verknotet. So konnte er natürlich den Ball, der direkt neben seinen Kopf flog, nicht annehmen.

Der Ball landete umgehend in der BSC-Hälfte und wurde auf die rechte Seite geschlagen, wo Karsten Krause mit einem fachkundigen Zuschauer in ein heftiges Streitgespräch über die Frage verwickelt war, ob man an der Seite des Bouillabaisse-Tellers schwarzes Salz oder doch besser aromatisch, leicht salzig schmeckende Krümel von getrockneter Tintenfisch-Tinte verteilt. Der Heiligenseer Stürmer hatte freie Bahn, zog ab und traf genau ins Tordreieck. Pete im Tor hatte keine Chance. 1:0 für Heiligensee.

Ein spontan im Mittelfeld tagender Mannschaftsrat kam einstimmig zur Meinung, dass jetzt etwas passieren muss. Inzwischen hatte sich der Inhalt der Dialoge herumgesprochen, Schellenberg musste vom Platz genommen werden, das war klar. In einer eilig inszenierten Verletzungspause wurde Efena am Spielfeldrand instruiert. Fünf Minuten später brüllte sie aufs Feld: „Hee, Du, Du von Heiligensee mit der Nummer 3, ich glaube, Dein Auto wird gerade mit Graffitis zugesprüht.“ Schellenberg zuckte zusammen, er fragte nicht lange nach, er rannte sofort zum Parkplatz, vorbei am Vereinsheim, aus dem schmatzende Geräusche und wohlige Kommentare drangen. Schellenberg registrierte sie in seiner Panik nur flüchtig.

Heiligensee wechselte einen drahtigen Mann mit kurzen, schwarzen Haaren ein. Er nahm sofort Frank Möller in Manndeckung, der inzwischen in den Sturm gewechselt war. Wenige Zentimeter nur trennten die Beiden. „Ich mach gerade eine Umschulung zum Maler“, sagte der Neue. „Eine Lehre, total spannend. Morgen habe ich Prüfung. Wenn man zwei subtraktive Grundfarben mischt, erhält man immer eine additive Grundfarbe. Immer.“


Frank B.

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